Vortrag zum Anlass eines Weiterbildungsseminars für Tel. 143
Die Dargebotene Hand (Schweiz)


vom 18. und 19. September 1999
Kartause Ittingen bei Frauenfeld



Thema des Vortrags


Macht- und Ohnmachtsgefühle des Menschen,

aus primärtherapeutischer Sicht, unter Berücksichtigung der
Gehirnevolution und der ontogenetischen Entwicklung





Autorin und Vortragende
Esther Odermatt, Primärtherapeutin (St. Gallen)


Ausbildung bei Dr. Arthur Janov PhD,
Begründer der Primärtherapie (Los Angeles USA)

für das Internet überarbeitet von Elisabeth Lopata (Deutschland)



Macht und Ohnmacht


1 Ursprung der Ohnmacht
   
1.1 Die Entwicklung der drei Bewusstseinsebenen unseres Gehirns
1.1.1 Die erste Bewusstseinsebene: Der Hirnstamm
1.1.1.1 Die Bedürfnisse der ersten Bewusstseinsebene
   
1.1.2 Die zweite Bewusstseinsebene: Das Mittelhirn, bzw. das Lymbische System
1.1.2.1 Bedürfnisse der zweiten Bewusstseinsebene
   
1.1.3 Dritte Bewusstseinsebene: Das Grosshirn bzw. der Neocortex
1.1.3.1 Bedürfnisse der dritten Bewusstseinsebene
   
1.1.4 Die Entwicklung der 3 Bewusstseinsebenen sind abgeschlossen
   
2 Macht und Ohnmacht als Erwachsener
   
2.1 Bedürfnisse des Erwachsenen
   
2.2 Hoffnungen und Illusionen



1 Ursprung der Ohnmacht


1.1 Die Entwicklung der drei Bewusstseinsebenen unseres Gehirns

1.1.1 Die erste Bewusstseinsebene: Der Hirnstamm

Die erste Bewusstseinsebene liegt im Hirnstamm, auch Kleinhirn genannt. Da dieser Hirnteil bereits bei Reptilien vorhanden ist, also in unserer Gehirnentwicklung einen sehr alten Gehirnteil darstellt, nennt man es auch das Reptiliengehirn.

Sie kennen sicher die Redensart, ... kalt wie eine Schlange sein...; was soviel bedeutet wie “gefühllos sein”. Ja, es ist wahr, die Schlange hat nicht das Bewusstsein des Fühlens. Dazu fehlt ihr die nächste Entwicklungsebene des Bewusstseins, das Mittelhirn, auch das Lymbische System genannt.

Die Entwicklung der ersten Ebene des Hirns beginnt bereits bei der Empfängnis und endet einige Wochen nach der Geburt. So hat ein Säugling auch folgerichtig kurz nach seiner Geburt noch keine Tränen. Das heisst aber nicht - wie lange angenommen wurde - dass er nichts fühlt. Es heisst viel mehr - “der Säugling ist” - er ist das, was sein System aus der Aussenwelt empfängt.

Wenn seine Lebensbedürfnisse nicht befriedigt werden, ist der Säugling der Schmerz, den die Defizite in seinem System hervorrufen. Mit anderen Worten, der Säugling ist in dieser Zeit ganz und gar der Zustand seines Seins. Er ist weder gut noch schlecht, er IST. Nicht mehr und nicht weniger. Alles was er erlebt, Gutes und Schlechtes bezüglich seiner Lebensbedürfnisse, das ist er. Er besitzt in dem Sinne noch keine Distanz zu sich und zu dem, was mit ihm geschieht.


1.1.1.1 Die Bedürfnisse der ersten Ebene

Der Embryo, bzw. das Baby IST also, und es besteht aus Bedürfnissen seit seiner Zeugung. Uterinäre Bedürfnisse sind z.B. genügend Sauerstoff, also eine Mutter, die nicht raucht, eine Mutter, die keinen Alkohol trinkt, eine Mutter, die sich gesund ernährt, damit die Baustoffe für den Aufbau und die Ernährung gesunder Zellen vorhanden sind. Die Schwangerschaft sollte möglichst stressfrei verlaufen, da Stress, vor allem emotionaler Stress, die gesunden und notwendigen Hormonausschüttungen beeinträchtigt.

Die Geburt wird vom Baby selbst eingeleitet, denn es hat das Bedürfnis, geboren zu werden. Das Baby schüttet bestimmte Hormone aus, die vom Mutterkuchen (der Plazenta) aufgefangen werden. Nun hat es das Bedürfnis, dass die Wehen einsetzen, nicht zu schwach und nicht zu stark, eben gerade richtig und im Einklang mit seinen Kräften. Während der Geburt hat er das Bedürfnis nach genügend Sauerstoff.

Die Bedürfnisse nach der Geburt sind vielfaltig. Der Säugling benötigt nun Sicherheit, Schutz, Wärme. Mit anderen Worten, er benötigt den Körper der Mutter, die Brust der Mutter, den Klang ihres Herzschlages, ihrer Stimme. So kann sich der Kreis schliessen; was im Uterus vorhanden und bekannt war, kann nun auch draussen wiedergefunden werden. Und dennoch hat der Säugling noch oft das Bedürfnis zu schreien. Darauf wird später noch eingegangen.

Wichtig ist also nun die Erkenntnis: Das Nichterfüllen von Bedürfnissen bedeutet Schmerz. Auf den Schmerz nicht angemessen reagieren zu können, bedeutet Ohnmacht.

Alle Erfahrungen, die ein Embryo oder ein Säugling von der Zeugung bis einige Wochen nach der Geburt macht, werden im Hirnstamm registriert. Es sind die so fest einprogrammierten Erfahrungen, auf denen er nun sein folgendes Leben aufbauen wird. Diese einprogrammierten Erfahrungen sind sozusagen das Fundament seines Hauses.

Nun werden wir uns zu Recht fragen, warum die Evolution vorsieht, Schmerz im Körper zu speichern. Was macht das für einen Sinn? Es gibt viele Gründe, warum der Körper Schmerz speichert; einer von ihnen ist, dass er wieder heilen möchte. Er möchte den Schmerz wieder loswerden.

Zum Verständnis dieses etwas komplizierten Sachverhaltes hilft uns vielleicht ein Beispiel aus der Welt der einzelligen Lebewesen. Eine Amöbe lebt im Wasser. Setzt man nun eine solche Amöbe als Versuchstier in Wasser, das mit Tinte verschmutzt wurde, akzeptiert sie dieses wohl oder übel, denn ohne Wasser stirbt sie. Das Experiment zeigt nun, dass die Amöbe die Fähigkeit besitzt, die Schmutzanteile aus dem Wasser zu filtern - hier also die Tinte - und in ihrem Zellleib zu speichern, bis sie Gelegenheit erhält, im Wasser sich der Tinte zu entledigen. Was lehrt uns dieses Experiment? Die Amöbe benötigt Wasser zum Leben, das ist ihr Bedürfnis. Es wurden bereits einige der Bedürfnisse erwähnt, die der Embryo bzw. der Säugling zum Überleben benötigt, diese sind sein “Wasser”. Die Nichterfüllung seiner Bedürfnisse, ist seine “Tinte”.

Es ist oftmals unmöglich, allen Bedürfnissen des Embryos oder des Säuglings gerecht zu werden. Eine Schwangerschaft und die Geburt ist nicht nur inneren, sondern auch äusseren Bedingungen unterworfen, die das “Wasser” in vielfältiger Weise “verschmutzen” können. Diese Bedingungen können sein: Unfälle; Beziehungskrisen; Naturkatastrophen; Krieg und noch vieles mehr. Der Embryo, der Säugling kann sich nicht schützen; er ist in seiner kleinen Welt eingeschlossen. Er kann nicht reagieren, bzw. seine Reaktionen werden überhaupt nicht wahrgenommen. Er ist dem Geschehen völlig ohnmächtig ausgeliefert. Er ist ohnmächtig, wenn der Körper der Mutter bei der Geburt nicht auf seine Signale reagiert; wenn das Becken zu schmal ist und alle Bemühungen des Babys herauszukommen nichts nützen. Es gibt mannigfaltige Gründe, warum es bei einer Geburt zu Komplikationen kommen kann und somit die Geburt für den Säugling ein traumatisches Erlebnis wird. Um so wichtiger wird das Bedürfnis des Babys zu schreien. Wenn all seine vitalen Bedürfnisse befriedigt sind, solche wie Nahrung, Wärme, Geborgenheit, dann kann das Baby den Schmerz seiner Geschichte herausschreien und zwar in den Armen der Mutter, des Vaters oder einer Bezugsperson.

Um nochmals auf das Amöbenbeispiel zurückzukommen; die Arme, in denen das Baby gehalten wird und die aktive Zuwendung, die es von der Person erfährt, wenn es seinen Schmerz heraus schreit, sind das “ Wasser”, der Schmerz, den es erfahren hat, ist seine “Tinte”, die durch sein Weinen ausgeschieden werden kann. Schreit das Baby aber allein gelassen, ohne die aufmerksame Zuwendung einer Bezugsperson, die es in den Armen hält, entsteht neuer Schmerz, das Gefühl von Verlassenheit und Einsamkeit. So entstehen die Gefühle “allein auf der Welt” zu sein, das Gefühl totaler Einsamkeit, totaler Verlassenheit und totaler Ohnmacht, denn das Baby kann ja nichts tun, um seinen Zustand zu ändern. Es schreit und niemand versteht.

Es ist vielleicht gerade dem Tod entronnen, hatte vielleicht die Nabelschnur um den Hals und bekam keine Luft mehr. Es war bereits blau, als es endlich herausgeholt wurde, und nun liegt es allein in einer kleinen Kiste, die wir Bett nennen, allein, ohne den schützenden Körper der Mutter, ohne deren Herzschlag zu hören, der so beruhigend war. Zu viel grelles Licht mit zu vielen unbekannten Geräuschen wirken auf das Baby ein. Es kann nicht reagieren, es ist zu erschöpft, es schläft ein. Welche Ironie, wenn nun eine Person an das Bettchen tritt und sagt: “Sieh nur, wie friedlich es schläft!”

Der menschliche Körper ist unter bestimmten Anforderungen in der Lage, körpereigene Drogen herzustellen. Diese körpereigene morphinähnliche Substanz nennen wir Endorphine. Das Immunsystem der Mutter behandelt den Embryo als Fremdkörper (Fremd-Eiweiss). Ohne die Endorphine würde das System der Mutter den Embryo abstoßen. So enthält also während der Schwangerschaft und bis zur Geburt der Blutkreislauf der Mutter und des Kindes diese Endorphine. Daher könnte man sagen: “Wir alle werden süchtig geboren”. Unser erstes “Suchtmittel” stellen also die Endorphine dar, die die körperlichen und seelischen Leistungen, die in der Schwangerschaft und während der Geburt erbracht werden müssen, erst möglich machen, somit also Leben ermöglichen. Liegt so der Gedanke nicht nahe, dass dieser Zustand des inneren Gleichgewichtes in den Mythen und Religionen das Paradies genannt wird?

Bei der Geburt spätestens aber, wenn wir das Glück hatten, dass unsere Mutter eine wohlbehütete, harmonische Schwangerschaft erlebte, wurden wir von dieser ersten Quelle des Glücks im wahrsten Sinne des Wortes abgeschnitten. Die Glücklicheren unter uns wurden von der Mutter gestillt. Die Muttermilch nämlich enthält ebenfalls eine morphinähnliche Substanz, die es dem Säugling ermöglicht, nicht in den totalen Entzug zu gehen. Mit anderen Worten, ein gestilltes Baby kann besser mit dem Verlust der “Glücksquelle” fertig werden, als das Flaschenbaby. Waren Sie schon einem auf einer Säuglingsstation? Nach einer oft traumatischen Geburt werden die Säuglinge in kleine Bettchen gelegt und sich selbst überlassen. Die stärkeren unter ihnen schreien sich fast die Lunge aus dem Hals, protestieren so also lautstark gegen diese Art von Behandlung. Die schwächeren von ihnen haben bereits aufgegeben und schlafen.

Die Ohnmacht wurde geboren und zwar in beiden Fällen; das schreiende wie das schlafende Baby befinden sich in totaler Ohnmacht. Ihr richtiger gesunder Platz wäre auf dem Bauch oder in den Armen der Mutter oder zumindest in deren Bett. Jedoch ihre Bedürfnisse werden ignoriert, und sie können nichts, absolut nichts tun, um diese zu befriedigen. Kennen Sie dieses Gefühl, vor einer Situation zu stehen und nichts, absolut nichts tun zu können? Halten Sie es aus? Nun, das Baby hat es ausgehalten, es hatte keine andere Wahl.

War die Schwangerschaft nicht optimal, war das Baby nicht erwünscht, war die Mutter gestresst oder deprimiert, so ist der Säugling bereits vorbelastet. War die Geburt traumatisch und das Baby schaffte es nicht, aus eigener Kraft herauszukommen, da es vielleicht die Nabelschnur um den Hals hatte, oder das Becken der Mutter zu schmal war, oder weil das Baby zu gross oder vielleicht übertragen war, oder weil die Geburt Stunden dauerte und die Zufuhr von Sauerstoff knapp wurde, oder es kommt bereits blau zur Welt und muss gar wiederbelebt werden. Dies alles wird im Hirnstamm registriert und prägt so sein Verhaltensmuster für sein künftiges Leben, ausser das Baby darf in Sicherheit und Geborgenheit den Schmerz seiner traumatischen Erlebnisse herausschreien.

Das vegetative Nervensystem des Menschen verfügt über zwei sich ergänzende Nervensysteme; das sympathetische und das parasympathetische Nervensystem. Das sympathetische Nervensystem sorgt dafür, dass der Körper unter Stress optimal reagiert. Durch Ausschüttung bestimmter Hormone (Adrenaline) dient das sympathetische Nervensystem der Leistungssteigerung in Notfallsituationen, bekannt unter “fly and fight response” (fliehen oder kämpfen). Der Gegenspieler des sympathetischen Nervensystems ist das parasympathetische Nervensystem. Es dient dem Stoffwechsel und dem Aufbau körperlicher Reserven im Ruhezustand des Körpers.

Man kann nun die Menschen in diese beiden Kategorien schwerpunktmässig einordnen, in die Gruppe der Sympathetiker oder der Parasympathetiker. Wurde zum Beispiel ein Baby geboren, als das parasympathetische Nervensystem in Aktion war, entwickelt es sich zum Parasympathetiker und umgekehrt. Vielleicht kennen Sie die beiden Typen unter dem Namen Optimist und Pessimist oder Gewinner und Verlierer?

Eine primärtherapeutische Patientin wurde als zweite von Zwillingen geboren. Sie bekam jedesmal einen wahnsinnigen Wutanfall, wenn sie bei einem Spiel verlor. Sie brauchte ihre ganze Kraft, um zu siegen, um ja nie mehr in die Situation der “Zweiten”also des “Verlierers” zu kommen.

Das Baby das das Licht der Welt erblickt, während das sympathetische Nervensystem aktiv war, hat das Gefühl, es “geschafft” zu haben. Es hat gerade gelernt, dass sich Anstrengung lohnt und dass es seinem Impuls vertrauen kann. Das Baby, das das Licht der Welt erblickt, während das parasympathetische Nervensystem aktiv war, hat es “nicht geschafft”, es wurde entweder “geholt”, z.B. mit der Geburtszange, mit Kaiserschnitt oder seine Mutter hat es im letzten Moment doch noch mit einer Wehe herausgepresst. Es hat gerade gelernt, dass es nichts tun kann, dass Anstrengung nichts nützt, schlimmer noch, dass es lebengefährlich ist, seinem Impuls zu vertrauen, da dies den Tod bedeuten könnte.

Stellen Sie sich ein Baby vor, das den Geburtskanal hinunter gleitet und dessen Nabelschnur sich um den Hals gewickelt hat. Je weiter es den Geburtskanal hinunter rutscht, um so fester zieht sich die Schnur zusammen und um so weniger Sauerstoff hat es zur Verfügung. Bis hierhin war das sympathetische Nervensystem aktiv, aber nun, bei immer knapper werdendem Sauerstoff, erhält das Gehirn die Meldung: “Achtung, Gefahr, keine Anstrengung mehr, Anstrengung wird lebensgefährlich und führt in den Tod!” Das parasympathetische Nervensystem übernimmt, d.h. das Gehirn meldet: “Nun keine Bewegung mehr, Energie sparen!” Hält dieser Zustand lange an, reduziert sich der Sauerstoff des Babys von aussen nach innen, das bedeutet, erst geraten die Gliedrmassen, dann erst die lebenswichtigen Organe unter Sauerstoffmangel. Wenn es zum Aeussersten kommt, wird nur noch das Gehirn mit Sauerstoff versorgt.

Ein Patient wollte sich erhängen. In einer Therapiesitzung fühlte er, wie er keine Luft mehr bekam, wie sich alles zuschnürte und er überhaupt nichts dagegen machen konnte. Sich das Leben zu nehmen bedeutet, in die Macht zu gehen, sich zu töten, um endlich etwas tun zu können.

Wie Sie sich vorstellen können, ist es hauptsächlich der Parasympathetiker, der im Leben Hilfe sucht und in die Primärtherapie kommt, seltener der Sympathetiker. Der Parasympathetiker findet oft allein keinen Ausweg mehr, weil es buchstäblich für ihn damals keinen Ausweg mehr gab. Es geht hier darum, Ihnen das Prinzip zu erläutern. Jeder einzelne Patient erlebt seinen ganz spezifischen Fall. Es gibt nie zwei gleiche Fälle. Es gibt zwar Ähnlichkeiten, aber jeder Mensch ist einzig in seiner Art. Daher ist das Zuhören ohne Annahmen zu machen, während der Therapie so wichtig,

Kommen wir zum Verlauf der Geburt zurück. Wenn also alles normal verläuft, wird die Geburt durch das Baby ausgelöst, durch seinen hormonellen Impuls, es kennt den Termin. Alles was dagegen läuft, wird vom Gehirn als Schmerz oder Terror registriert, nichts dagegen tun zu können hingegen als Ohnmacht. Ohnmacht und Terror sind in ihrer Gewalt (Stärke) gleich; eins zu eins! Noch können wir in diesem Stadium nicht von Gefühlen sprechen, denn Gefühle laufen über das Lymbische System, das Mittelhirn, das hier noch nicht aktiviert ist. So sprechen wir richtiger von einem Zustand des Terrors und/oder der Ohnmacht.

Nun ist das Baby also geboren und liegt in seiner kleinen Kiste. Es hat Hunger und kann nicht zum Kühlschrank; ihm ist kalt und es kann nicht in ein warmes Bett schlüpfen; es hat Durst und kann keine Flasche öffnen. Es ist mit den vielen neuen Gerüchten, Geräuschen und dem fremden Licht völlig überfordert, und niemand nimmt es in den Arm und gibt ihm Sicherheit, Wärme und Geborgenheit. Es ist allem völlig ausgeliefert und kann nichts tun. Wenn es schreit, weil es Hunger hat, lässt man es warten, weil sein Schreien mit der vorgegebenen Stillzeit nicht übereinstimmt. Schreit es, weil es menschliche Wärme braucht, wird es bestenfalls gestillt oder bekommt die Flasche, oder die Windeln werden gewechselt. Das Baby schreit, weil es seine Frustration loswerden muss und wird dabei im Bettchen allein gelassen, unter dem Motto: “Schreien ist gesund und stärkt die Lungen!” So wird die Situation der Bedürftigkeit des Babys völlig verkannt und zusätzlich mit neuem Schmerz belastet. Mit anderen Worten, es bekommt nicht, was es braucht; es wird nicht verstanden, und es kann nichts dagegen tun: Ohnmacht, Ohnmacht, Ohnmacht.

In den USA werden immer mehr Kinder durch Kaiserschnitt zur Welt gebracht, da die Ärzte zunehmend das Risiko einer Geburtskomplikation fürchten. Oft haben sie nach Anzeigen und Zivilprozessen hohe Schadensersatzsummen zu zahlen, was, wie es scheint, wiederum Ausdruck der elterlichen Ohnmacht ist. Also werden die Babys “geholt” wenn es den Ärzten passt. Das Baby hat keine Chance seinen Termin abzuwarten. Patienten, denen dies geschieht, haben sehr wenig Vertrauen in ihre Impulse.

Eine 47-jährige Patientin beschreibt es so: “Mein ganzes Leben lang wache ich morgens auf und weiss nicht, was ich tun soll, und jeden Abend wünsche ich mir, den Tag nochmals beginnen zu können, eben diesmal richtig. Ich habe das Gefühl, irgend etwas ist total falsch. Ich habe irgend etwas total falsch gemacht!”

In der USA werden mindestens 50% aller männlichen Babys aus “hygienischen” Gründen nach der Geburt beschnitten. Dies geschieht ohne Narkose. Man geht davon aus, das Baby fühle ja noch nichts. Obwohl fortschrittliche Ärzte auf die Gefahr des Traumas aufmerksam machen, will niemand hören. So liegt es nahe, dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Gewalt in den USA und der dort üblichen Beschneidungspraxis besteht, gleichgültig, ob es sich um sexuelle oder andere Gewalttaten handelt.

In den Oststaaten wie Russland, dem Balkan und in China, aber auch in Südamerika werden die Babys wie kleine Pakete verschnürt, oben schaut nur noch der Kopf heraus. Sie sehen aus wie kleine Mumien. Können sie sich die Ohnmacht dieser Babys vorstellen? Sie können sich nicht frei bewegen, sie sind total eingeengt. Liegt da nicht ein unmittelbarer Bezug zur Gewalttätigkeit einerseits und der Passivität andererseits?

Ein Patient, der seine Ohnmacht mit Alkohol zu betäuben versuchte, hatte Einsichten darüber, dass ein direkter Zusammenhang mit dem Eingeschnürtsein und seinem Trinken bestünde. Das war ja alles, was er als Baby tun konnte, trinken!


1.1.2 Die zweite Bewusstseinsebene: Das Mittelhirn, bzw. das Lymbische System

Als zweite Ebene bezeichnen wir das Mittelhirn, oder auch das emotionale Gehirn genannt. Diese Hirnebene teilen wir mit den Säugetieren, zu denen der Mensch biologisch gehört. Der eine oder andere unter ihnen hat vielleicht schon einmal seinen Kummer seinem Hund erzählt und das Gefühl gehabt, von ihm verstanden worden zu sein. Ja, gefühlsmässig versteht der Hund, denn auch er besitzt ein emotionales Hirnsystem. Also, auf dieser Ebene fühlen wir.

Die Entwicklung der emotionalen Ebene beginnt nach der Geburt und ist ungefähr nach dem 5. oder 6. Lebensjahr abgeschlossen. Wenn das Baby beginnt, Tränen zu vergiessen, wissen wir, dass es Schmerz empfindet. Von jetzt an kann es fühlen, und wenn es fühlen kann, kann es leiden. Das Baby IST also nicht mehr der Schmerz oder das Leiden wie auf der ersten Ebene, sondern jetzt empfindet es den Schmerz, es leidet. Aber es WEISS noch nicht, dass es leidet, dazu fehlt ihm das voll entwickelte Grosshirn, der Neocortex.


1.1.2.1 Bedürfnisse der zweiten Bewusstseinsebene

Während der Entwicklung dieser emotionalen Ebene hat das Kind Bedürfnisse. Die Bedürfnisse, die auf der ersten Ebene aufgeführt wurden, gehen weiter. Das Kleinkind benötigt also neben den vitalen Bedürfnissen wie Nahrung, Kleidung etc. weiterhin Geborgenheit, Sicherheit, Wärme, Zuwendung, Stimulation und die Möglichkeit zu lernen. Dazu kommt das Bedürfnis nach mindestens einer Bezugsperson. Ohne eine Bezugsperson kann sich das Kleinkind emotional nicht oder nur mangelhaft entwickeln. Das heisst, das Lymbische System, also das Mittelhirn, kann sich nicht oder nur mangelhaft entwickeln. Das Bedürfnis nach emotionaler Bindung ist gross, so gross, dass das Kind alles annimmt: Im besten Fall Liebe, Wärme, Schutz, Geborgenheit; im schlimmsten Fall Schläge, Schreie, Misshandlungen bis hin zum sexuellen Missbrauch.

Das Kind hat keine Wahl; es muss nehmen, was es bekommt, denn seine Bedürfnisse sind lebensnotwendig. Das Kind hat keine Vergleichsmöglichkeiten, was es erlebt, ist für das Kind “normal”, seine Normalität. Alles was ihm geschieht, bezieht es auf sich. Es verfügt noch nicht über die Hirnkapazität des Verstehens, denn dazu bedarf es des entwickelten Neocortex. Das Kind versteht nur emotional. Es sieht den bösen oder wütenden Blick seiner Mutter oder den seines Vaters und reagiert darauf.

Ein Kind bis zum 5. oder 6. Lebensjahr kann nicht bewusst lügen. Wenn es für das Empfinden von Erwachsenen die Unwahrheit sagt, tut es dies aus emotionalem Empfinden heraus, so z.B. aus Angst vor der Person, die bedrohlich vor ihm steht. Muss das Kind gar Angst vor seiner Bezugsperson haben, entsteht eine ausserordentlich gestörte Beziehung, also keinerlei Beziehung, die den Bedürfnissen des Kindes entspricht. Diese ungünstigen Bedingungen verhindern die gesunde Entwicklung des Lymbischen Systems, also einer gesund funktionierenden Gefühlsebene.

Sie haben sicher schon einmal einen Prozess im Fernsehen verfolgt, in dem einem Mörder und/oder Sexualtäter vorgeworfen wurde, er habe keine Reue über seine Tat gezeigt, er habe “kaltblütig” gehandelt, habe mit steinernem Gesicht, tränenlos also “unberührt” dagesessen, als ginge ihn das alles nicht an. Nun dieses Verhalten ist ein sicheres Zeichen, dass das Lymbische System, also das emotionale Gehirn, nicht oder gestört entwickelt wurde.

Bei einer sanften streichelnden Berührung der Hand einer Patientin, schrie diese vor Schmerz laut auf. Sie flehte die Therapeutin an sie zu schlagen. Nach dem Grund befragt, sagte sie, dass sie sich nur so geliebt fühle. Ihr Vater hatte sie mit 5 Jahren brutal vergewaltigt. Ihre Mutter schlug mit jeglichen Gegenständen, die sie dazu in die Hände bekam, blindlings auf sie ein, und sie war all dem ohnmächtig ausgeliefert.

Doch auch im besten Fall ist es unmöglich, dem Kind jederzeit gerecht zu werden und auf all seine Bedürfnisse einzugehen. Erwachsene sind nicht perfekt, auch sie haben Bedürfnisse, und diese sind oft nicht im Einklang mit denjenigen des Kindes. Umso wichtiger ist es auch hier, dass das Kind seinen Emotionen über die Nichterfüllung seiner Bedürfnisse Ausdruck geben darf, sei es durch Weinen, Ausbrüche von Wut und Frustration oder gar durch Tobsuchtsanfälle. Kann das Kind jedoch nicht in Geborgenheit seinen Schmerz herauslassen, wird sich in verhängnisvoller Weise bestätigen, was das Baby auf der ersten Ebene gelernt hat. Mit andern Worten, alles was auf der zweiten Ebene geschieht, wird mit der Brille der ersten Ebene betrachtet. Das Kind ist durch die Geschehnisse der ersten Ebene “vorbelastet” oder richtiger, geprägt. Wird nämlich sein Weinen unterdrückt, werden seine Ausbrüche mit Liebesentzug bestraft, wird es für seine Tobsuchtsanfälle gar noch geschlagen, so kann sein System nicht nur nicht heilen, sondern es erfährt noch mehr Schmerz. Also, für etwas, worunter es bereits leidet, wird es nochmals bestraft.

Sie kennen vielleicht die Situation? Ein Kind weint; die Eltern versuchen zu ergründen warum; sie finden keinen plausiblen Grund und reagieren etwa so: “Du hat keinen Grund zu weinen; wenn du nicht sofort aufhörst, geben wir dir Grund zu weinen”, oder noch schlimmer “ bekommst du eine runtergehauen, damit du weisst, warum du weinst”! Die Ohnmacht der Eltern gerät unversehens in die Macht und entlädt sich dort in Form von Gewalt über dem Kind. Das Kind aber, dessen Körper gerade dabei war zu heilen - das bedeutet den Schmerz herauszulassen, den es gerade empfindet aber nicht nennen kann, weil sein Verstand (sein Neocortex) noch nicht entsprechend entwickelt ist - fühlt sich total im Stich gelassen. Riesige Ohnmacht steigt hoch. Es fühlt sich nicht verstanden, emotional verlassen. Je nach den Erfahrungen seiner ersten Ebene wird das Kind sich nun verhalten. Der Sympathetiker wird nicht aufhören zu weinen, er wird trotzen, um sich schlagen, und auf die Eltern wütend sein. Der Parasympathetiker resigniert nur. Er hat bereits gelernt, dass das Reagieren gefährlich, unter Umständen tödlich sein kann. In beiden Fällen fühlt sich das Kind nicht verstanden, alleingelassen, ohnmächtig.

Die bereits erwähnte 47-jährige Patientin mit dem Kaiserschnitt reagierte als Kind auf ihre Ohnmacht mit Tobsuchtsanfällen. Sie wurde dafür auf ihr Zimmer geschickt und ignoriert, bis sie sich für Ihr Verhalten entschuldigte. Fünfjährig bekam sie von ihrem Vater, einem Arzt, gesagt: “Du bist psychotisch”. Jetzt wusste sie endgültig, dass sie nicht in Ordnung war, denn ihr Vater musste es ja wissen. Dieses Erlebnis ergänzte das Gefühl, sie mache alles falsch und alles könne gut sein, wenn sie nur anders sei. Sie ist Schauspielerin geworden, so kann sie in Rollen schlüpfen und immer jemand anderer sein. Sich selber zu sein ist nach ihren Worten “nicht zum Aushalten”.


1.1.3 Die dritte Bewusstseinsebene: Das Grosshirn bzw. der Neocortex

Die Entwicklung der dritten Ebene beginnt im Alter von fünf bis sechs Jahren und ist etwa mit zwölf Jahren abgeschlossen, d.h., wenn Jugendliche in die Pubertät kommen.

Etwa zwischen dem fünften und sechsten Lebensjahr kann ein Kind bewusst lügen, d.h. mit Absicht die Unwahrheit sagen. Mit ungefähr acht bis neun Jahren kann es Fahrrad fahren. Es kann sich im Strassenverkehr angemessen verhalten. Wenn z. B. ein Spielkamerad von der anderen Strassenseite nach ihm ruft, rennt es nicht Hals über Kopf über die Strasse, sondern versichert sich erst, ob der fliessende Verkehr ein Überqueren der Fahrbahn zulässt. Es weiss jetzt um die Gefahr der Strasse. Ein jüngeres Kind kann sich zwar auch der Gefahr der Strasse bewusst sein, doch es reagiert meist noch auf den grösseren emotionalen Reiz, der vom Freund, von der Freundin auf der anderen Strassenseite ausgeht und dem es noch eher aus seinen Bedürfnissen heraus folgt.


1.1.3.1 Bedürfnisse der dritten Ebene

Die Bedürfnisse auf dieser Ebene sind weiterhin Sicherheit, Zuwendung, Vertrauen, Liebe, Geborgenheit, Freiheit, Freiraum, Bezugspersonen, Freunde, Bildung eben ganz einfach, Kind sein zu dürfen.

Je nach dem wie sich das Kind bis jetzt entwickeln konnte, wird sich nun eine mehr oder weniger starke Neurose ausbilden. Die Neurose wird dem Kind ermöglichen, seinen Platz in seiner Familie, seiner Schule, kurz in seiner Umwelt zu finden. Die Neurose ist ein Abwehrmechanismus, der es dem Kind ermöglicht, dem Schmerz der vorausgegangenen Ebenen zu entfliehen. Das Wort Neurose hat in unserer Gesellschaft fälschlicherweise eine ausschließlich negative Bedeutung. Es ist aber zu betonen, dass Neurosen wichtige Abwehrmechanismen, das heisst notwendige Überlebensmechanismen sind. Dem Heranwachsenden wird es so ermöglicht, sich schmerzunbewusst weiter zu entwickeln, da der funktionierende Abwehrmechanismus (die Neurose) den Schmerz der früheren Ebenen unterdrückt.

Legen seine Eltern grossen Wert auf Bildung, so wird er oder sie versuchen, in der Schule erfolgreich zu sein. Benötigen die Eltern eine/n Helfer/in zu Hause, wird er / sie diese Lücke füllen. Kurz, Heranwachsende versuchen das zu sein, was die grösste Chance in sich trägt, von den Eltern geliebt zu werden. Das Kind hat jetzt mehr Spielraum. Es findet vielleicht in seiner Umgebung eine Familie oder Bezugspersonen, die seinen Bedürfnissen mehr entsprechen, weil es hier eher sein kann, was es ist, als in seiner realen Familie. Gelingt dem Kind das, so können sich solide Abwehrmechanismen bilden, mit deren Hilfe es hier und jetzt sowie später in der Gesellschaft seinen Platz finden kann.

Was aber geschieht, wenn es dem Kind trotz seiner Bemühungen nicht gelingt, akzeptiert zu werden; wenn die Eltern z. B. unberechenbar sind, ihre Launen, also ihre Stimmungen, direkt am Kind abreagieren; wenn Vater oder Mutter Alkoholiker sind und Streit und Gewalt in der Familie vorherrschen; wenn das Kind gar von einem Elternteil sexuell missbraucht wird, oder wenn ständiger Streit zwischen den Eltern zur Scheidung führt? Was geschieht, wenn ein Elternteil chronisch krank ist und wenn der andere Teil zur Arbeit muß und so niemand für das Kind da sondern dies noch im Gegenteil für die Haushaltsführung verantwortlich ist? Was geschieht, wenn gar beide Eltern etwa durch Unfall als Bezugspersonen für das Kind ganz ausfallen? In all diesen Fällen kann ein Kind nicht Kind sein. Es kann nicht in Ruhe heranwachsen; es muss Aufgaben übernehmen, die nicht die seinen sind. In den meisten dieser Fälle wird das Kind zum Vater oder zur Mutter seiner Eltern. Oftmals wird es dafür noch bewundert und gelobt und es fühlt sich bestätigt in seinem Tun. Was aber wirklich geschieht, ist, dass der Körper zwar wächst, die seelische Entwicklung aber stehen bleibt, dass das Kind also nicht wirklich erwachsen werden kann. Je nach der Vorgeschichte wird das Gefühl der Ohnmacht bestärkt, bzw. allgegenwärtig.

Kann das Kind trotz Urschmerz keine Neurose bilden, weil das Umfeld zu chaotisch und missbrauchend ist, so kann es auch keine wirksamen Abwehrmechanismen gegen den Urschmerz vorausgegangener Ebenen entwickeln, so werden seine Abwehrkonstruktionen nie wirklich funktionieren. Je nach Schmerz wird es der Psychose näher sein als der Neurose. Das bedeutet aber nicht, dass das Kind nicht intelligent sein kann. Im Gegenteil, es wird vielleicht sogar hochintelligent. Doch diese so herausgebildete Intelligenz wird immer eine Flucht vor dem Schmerz sein. Denn nur so entsteht das nötige Gleichgewicht, die Balance zwischen Schmerz und Macht. Je nach Urschmerz wird das Kind die eine oder die andere Richtung nehmen,“supergescheit” oder im Gegenteil “superdumm” bis hin zur Motivationslosigkeit, was das Lernen angeht.


1.1.4 Die Entwicklung der drei Bewusstseinsebenen sind abgeschlossen

Beim Eintritt in die Pubertät ist die Entwicklung aller drei Hirnebenen abgeschlossen. Je nach den Entwicklungsmöglichkeiten der drei Ebenen wird das Ergebnis aussehen. Jetzt also verfügen Jugendliche über eine gute oder eine schlechte Abwehr.

Mit einer guten Abwehr, also mit einer gut funktionierenden Neurose, werden Jugendliche jetzt mehr oder weniger die Werte ihrer Eltern übernehmen. Einige werden vielleicht total opponieren, die Eltern herausfordern, aber dennoch die Schule abschliessen, einen Beruf erlernen oder ein Studium absolvieren. Sie werden ausgehen, ihre ersten Kontakte und Bindungen mit dem anderen Geschlecht anknüpfen, kurz Hoffnung in ihre Zukunft haben. Mit einer schlechten Abwehr aber kommen jetzt die ersten Selbstmordgedanken oder -versuche, denn jetzt weiss das Mädchen oder der Junge, dass sie/er leidet.

Ein Patient schrieb in seiner Biographie: “Mit zwölf wusste ich, dass das Leben sinnlos ist; ich versuchte möglichst, nicht daran zu denken."

Die Patientin, deren Hand die Therapeutin in der Sitzung sanft berührt hatte, schrieb in ihrer Biographie: “Mit dreizehn wollte ich mich vom Balkon stürzen, weil ich es nicht mehr aushielt. Ich beschloss dann aber, das zu sein, wozu ich offenbar bestimmt war, nämlich schuld an allem Übel in meiner Familie."



2 Macht und Ohnmacht als Erwachsener


2.1 Bedürfnisse des Erwachsenen

Nun sind wir also erwachsen. Natürlich haben wir auch Bedürfnisse im Erwachsenenalter. Aber die Befriedigung welcher Bedürfnisse ist nun lebensnotwendig?

Ganz sicher sind es die zu essen, zu trinken, zu schlafen und zu arbeiten um ein Dach über dem Kopf zu haben.


2.2 Hoffnungen und Illusionen

Erwachsene glauben aber, dass sie jetzt alle ihre Bedürfnisse befriedigen könnten.

Konstruieren wir folgenden Fall: Zwei Menschen verlieben sich. In ihren Körpern werden nun Hormone aktiviert, Adrenaline werden ins Blut abgegeben. Als Folge tritt ein Zustand von rauschhafter froher Erwartung, von Hoffnung ein. Man sieht den geliebten Menschen, wie man ihn braucht, nicht wie er ist, denn im Zustand des Rausches sieht niemand klar. Es wird geheiratet. Er/Sie ist sich absolut sicher “Es" nun zu bekommen.

Erinnern sie sich an die Amöbe mit der Tinte? Von einem Menschen geliebt zu werden, ist wie endlich in “mein natürliches Wasser zurück zu kehren". Nun möchte der Körper heilen, allen Schmerz herausschreien, die “Tinte" loswerden. Dieses Bedürfnis bleibt aber unbewusst; es ist nicht kulturkonform, seinen Schmerz in den Armen der geliebten Person herauszuschreien, so wie man ihn ja auch in den Armen der Mutter nicht herausschreien durfte. Anstatt diese komplexen Hintergründe zu verstehen, will man nun vom Partner all das, was man als Baby, Kleinkind, Kind nicht erhalten hat. Lässt die Verliebtheit nach, d. h., hört das System auf, den Körper mit Adrenalinen zu überfluten, sehen wir auf einmal wieder klar; die rosarote Brille fällt. Wir sehen den anderen wie er ist. Um die Enttäuschung nicht fühlen zu müssen, sucht der Erwachsene eine Auswegmöglichkeit, die ihm gestattet, seinen inneren Schmerz weiter unbewusst zu halten. So wird ganz automatisch der Partner zum Schuldigen. Man ist überzeugt, dass der Partner einem all das schuldet, wonach man doch so sehnlich verlangt: Liebe, Sicherheit, Wärme, Geborgenheit, Anerkennung. Man kann nun aus Enttäuschung die Beziehung abbrechen, sich eine/n Geliebte/n nehmen, ein Haus bauen, sich in den Beruf stürzen, das Land verlassen, anderswo ganz neu beginnen oder auch Kinder herstellen, an die man wiederum Hoffnung knüpfen kann (Beginn des neuen Missbrauchs).

Kann man das aber alles nicht, kann man dem frühen Schmerz aus den unteren Hirnebenen, der da hochkommt, nicht ausweichen, findet man keine Therapie, in der dieser Schmerz bewusst erlebt wird, so ist sich der Erwachsene weiterhin nicht bewusst, was mit ihm geschieht. Es bleibt ihm innerhalb seines Bewusstseins weiterhin nur die Möglichkeit, beim Partner die Schuld zu suchen, oder der Schmerz greift das eigene System an, was Krankheit bedeutet. Alles aber, was man scheinbar für den Partner tut, scheint nicht auszureichen, die Bedürfnisse werden nicht befriedigt. Ohnmacht kommt hoch, die alte vergessene Ohnmacht. Aber bevor diese auch nur die geringste Chance hat, wahrgenommen zu werden, geht der Erwachsene in die Macht. Jetzt ist er ja erwachsen; jetzt ist er nicht mehr das kleine Kind, das sich alles gefallen lassen muss und sich nicht wehren kann.

Die Macht, in die der Erwachsene gehen wird, steht immer 1:1 zu der Ohnmacht, die er auf den frühen Ebenen erfahren hat. Macht und innerer Schmerz müssen 1:1 stehen, sonst würde der alte Schmerz durchdringen, und das verbietet die Abwehr, die in der frühen Kindheit lebensnotwendig war, nun aber das Realwerden verhindert.

In einer Ehe, in der beide Partner in die Macht gehen, kann es Mord und Totschlag geben. Dies ist aber eher die Ausnahme. Meistens, wenn ein Partner in die Macht geht, zwingt das den anderen, in die Ohnmacht zu gehen. Sie hassen einander nun dafür, denn keiner der beiden möchte da sein, wo er jetzt ist. Da sie felsenfest davon überzeugt sind, dass der andere ihm nun geben muss, was er will, wird der Partner mehr oder weniger zu seinem Glück gezwungen, sei es nun zum ehelichen Beischlaf, zum Einkaufsbummel am Wochenende, zum Urlaub am Meer oder in den Bergen.......

Der Partner, der in die Macht geht, erzwingt sich also, was er haben will. Ist sein unbewußtes Ohnmachtspotential gross, so wird er sich dabei keiner Schuld bewusst sein. Er wird sagen, der Partner habe es doch letztlich auch so gewollt. Dies glaubt man um so mehr, als man sich höchst wahrscheinlich denjenigen als Partner wählt, dessen Ohnmacht auch Ohnmacht geblieben ist, d. h. ,jemanden, der auch jetzt als Erwachsener nicht in die Macht gehen kann, oder dessen Ohnmacht ihn in die Krankheit zwingt. Paradoxerweise ist in diesem Falle die Krankheit Macht.

Wer sich aber gar nicht erst verlieben kann, der setzt seine Hoffnungen vielleicht in eine erfolgreiche Berufslaufbahn. Je imageträchtiger diese ist, um so besser. Er/Sie wird vielleicht Arzt/Ärztin, Politiker/in, Professor/in, Psychologe/Psychologin, Lehrer/in oder auch Theologe/Theologin. Denn wo der Geldwert des Berufs es nicht bringt, da bringt der moralische Wert des Berufsbildes die Macht und Anerkennung, die den Schmerz, die Verzweiflung, die Ohnmacht unbewusst halten. Je grösser die unbewusste Ohnmacht, um so grösser ist die Macht, in die man gehen muss bis hin zur Diktatur.

Unsere gesamte Welt ist von dieser Ohnmacht geprägt. In der westlichen Welt glauben wir, alles im Griff zu haben. Wir akzeptieren nicht einmal den Tod. Babies werden schon im Mutterleib operiert in der irrigen Meinung, “sie spürten ja nichts."

Die Ohnmacht hat Millionen von Gesichtern. Doch eins haben wir Menschen unseres Kulturgebietes gemeinsam; wir unterdrücken die Ohnmacht, sobald wir auf sie gestossen werden, denn nur der Erwachsene hat die Macht, der Ohnmacht zu entfliehen.

Dann konsumieren wir Dinge, die wir nicht brauchen, wie Süchtige. Wir tätigen Frustrationseinkäufe, essen zuviel, rauchen, trinken Alkohol, wohl wissend, dass dies unsere körperliche und seelische Gesundheit schädigt. Wir ruinieren Hirn, Leber und unser gesamtes Immunsystem, und dies alles tun wir, um die alten Gefühle, den Schmerz, der hochkommen will, zu unterdrücken. Das gesamte Repertoire des Ausagierens unserer alten Abwehr in Form von suchtgleichen Zwangshandlungen steht unter dem unbewussten Motto:


Nie wieder, nie wieder wie damals ohnmächtig sein!


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